Leseprobe 1
Sie blickt in die Runde.
„Ich werde den Vorsitz im Vorstand übernehmen“, hört sie sich sagen. Ihre Gedanken schweifen um den Tod ihres Vaters, um den Verlag, um das, was auf dem Spiel steht. Ihr ist, als sagt diesen Satz ein anderer.
Einen Moment lang ist es still.
„Zumindest vorerst“, fährt sie mit ernster Miene fort. „Ich weiß, dass ich mich einer großen Verantwortung sowie einer noch größeren Herausforderung stellen muss. Ich möchte Sie deshalb innig bitten, mir zu helfen und mir schnell einen Einblick zu verschaffen. Und zeigen Sie mir schonungslos mögliche Probleme auf. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie jetzt denken: Die soll mal die jungen Pferde im Stall lassen. Das kann nicht sein, die hat doch keine Ahnung von dem, was hier vorgeht. Und ihr fehlt die Kompetenz. Ich versichere Ihnen, dass ich Sie alle in meine Arbeit einbeziehen werde, Alleingänge kommen für mich nicht in Frage. Ich baue auf Sie.“
Jablonski blickt zu Pelletier. Die anderen im Raum, von Maria Maeder abgesehen, ebenso. Die Maeder kann Pelletier nicht richtig sehen, weil zwischen ihnen Anna-Maria Brentano sitzt. Die nicht mehr ganz junge Chefsekretärin verzieht ein wenig das Gesicht. So, als wolle sie sagen: na, dann mal zu.
„Und wenn Sie sich fragen, warum macht sie das, weshalb tut sie sich das an, statt sich ein schönes Leben zu machen, sage ich Ihnen: Die Herausforderung steht ganz oben. Ich will und werde mir selbst beweisen, dass ich das kann."
Leseprobe 2
„Informieren Sie mich bitte sofort, wenn Sie etwas Genaues herausbekommen haben. Ich werde bis dahin nichts in dieser Angelegenheit unternehmen.“ Nachdem Sophie Marder gegangen ist, geht Anna-Maria zum Fenster und blickt hinaus auf die Hildesheimer Straße. Es regnet an diesem Oktobertag. Sie muss schlucken. Dann rollen Tränen.
Leseprobe 3
Sie macht eine Atempause, fährt aber fort: „Ich werde mir überlegen, ob ich mich bei Ihnen einkaufe. Dann dürfen Sie mich gern fragen, ob ich einen Job für Sie und Ihren Herrn Jablonski oder wie der heißen mag anzubieten habe. Habe ich: Sie in der Kantine und ihn als Fahrer.“ „Ich habe nicht vermutet, dass Sie so gewöhnlich sind“, erwidert Anna-Maria. Sie steht auf, geht und fährt in den Verlag zurück. So etwas hat sie in ihrem Leben bisher nicht erlebt.
Leseprobe 4
„Ja sicher“, antwortet sie.
„Es könnte einen Zusammenhang geben.“
„Mit dem Kommentar und dem Überfall auf ihn?“
Bert nickt. „Warum sollte ein Mann vor seiner Haustür in Wettbergen zusammengeschlagen werden? Rache wäre ein Motiv.“
„Du glaubst, dass Wendhaus dahinter steckt?“ Bert denkt nach. „Schon möglich. Allerdings halte ich Wendhaus nicht für den Drahtzieher, der ist im Grunde zu anständig. Ich denke eher an seine Frau.“
Anna-Maria zuckt mit den Achseln. Sie hat erst vor ein paar Tagen erleben müssen, wie Helma Gatt-Wendhaus sein kann, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt: eiskalt, berechnend und gewöhnlich wie eine Nutte. Sollte sie Bert von ihrem Besuch in der Brauerei erzählen? Vorerst nicht, fällt sie sofort eine Entscheidung. Jedenfalls nicht, wenn er nicht danach fragt.
„Bist Du davon überzeugt, dass sie sprichwörtlich über Leichen geht? Der Polizeibeamte hat mir gesagt, dass Harry Beckermann in Lebensgefahr geschwebt hat. Mein Gott, ist das furchtbar.“
„Wir sollten der Polizei diesen Hinweis mit dem Kommentar und den möglichen Racheabsichten nicht vorenthalten“, sagt Bert.
„Es könnte die Polizei auf die richtige Spur bringen. Und wenn an meiner Annahme nichts dran ist, wird sich das schnell herausstellen.“
Leseprobe 5
„Ich weiß es nicht“, sagt er. „Wir können nicht den Rest unseres Lebens mit einer Lüge leben. Früher oder später wirst Du Farbe bekennen müssen. Ob es Dir passt oder nicht.“ „Du hast ja recht“, erwidert er.
Sie mustert ihn. „Was wollen wir tun?“
Er fasst sich an den Kopf. „Ich sehe nur einen Ausweg, Anna-Maria. Ich trenne mich von Karin.“
Ihre Stimme beginnt leicht zu zittern. „Bist Du Dir sicher?“
„Ja.“
„Ich möchte nichts lieber, als mit Dir zusammen sein“, sagt sie. „Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass Du dich von deiner Frau wirklich trennen wirst.“
„Wir haben uns nicht gesucht, Anna-Maria. Ich Dich nicht, Du mich nicht. Das Leben hat uns zusammengeführt. Daran kann niemand etwas ändern. Auch meine Frau nicht.“
„Und Deine Tochter? Was wird sie denken. Wird sie das akzeptieren oder wird sie Dich aus ihrem Leben verbannen?“ Diese Worte schmerzen ihn. An seine Tochter hatte er bisher überhaupt noch nicht gedacht. Er war nur auf sich fixiert.
In der Tat: wie würde Lisa reagieren? Würde sie ihren Vater verstehen? Oder ihn verabscheuen und zum Teufel wünschen?
„Ich weiß, dass es noch einige Probleme gibt, aber ich liebe Dich. Ich will Dich.“
„Ich liebe Dich auch, und ich will Dich ebenso wie Du mich, Bert. Aber Blauäugigkeit ist jetzt überflüssig. Wir müssen der Realität ins Auge sehen. Womöglich wirst Du mich eines Tages dafür hassen, dass ich Dich von Deiner Familie getrennt habe.“
„Nein“, erwidert er. „Dich nicht. Vielleicht würde ich mich eines Tages selbst dafür hassen, was ich getan habe. Ich will Dich.“
Er setzt sich neben sie, legt einen Arm um ihre nackte Schulter.
„Ich werde Dienstag Karin alles erzählen“, sagt er schließlich.
„Was willst Du ihr erzählen? Dass Du eine Geliebte hast?“
Er will antworten, aber spontan legt sie einen Finger auf seinen Lippen.
„Ich will es nicht hören. Du wirst das zu ihr sagen, was jede Frau im Innersten ihrer Seele fürchtet. Ich will das jetzt nicht hören.“
Er küsste sie sanft auf den Mund. Anna-Maria schlingt ihre Arme um seinen Nacken und schließt die Augen.
Leseprobe 6
„Wenn Du noch einmal versuchst, unbescholtene Leute zu belästigen und ihnen böse Briefe schicken solltest, wird Dein hübsches Gesicht eine Fratze sein. Für den Rest Deines Lebens. Das ist heute nur eine Warnung. Eine zweite gibt es nicht.“
Der Mann kommt näher, setzt sich auf die Bettkante und fuchtelt mit dem Messer vor ihrem Gesicht herum. Mit der anderen Hand greift er ihr unter das Kleid in den Schritt. Anna-Maria scheint einige Zentimeter zusammenzuschrumpfen. Sie steht Todesängste aus.
„Bitte nicht“, wimmert sie.
Der Griff wird härter, sie empfindet Schmerz. „Erst die große Fresse und jetzt wie ein Hund jaulen“, sagt der andere Mann.
„Hau´ ihr eins rein, Kumpel.“
Der Maskierte auf der Bettkante scheint das wie einen Befehl aufzufassen. Noch einmal fasst er zu, dieses Mal noch härter als zuvor. Anna-Maria schreit auf. Der Griff verursacht ihr nicht allein Schmerz,
sondern auch Pein. Mehr Pein als Schmerz.
„Bitte …“ flüstert sie.
Tränen laufen über ihre Wangen. Der Mann auf der Bettkante zieht seine Hand zurück, reißt dann urplötzlich die Knöpfe ihres Kleides auf. Und er benötigt nur Sekunden, bis er mit der scharfen Messerklinge den Verbindungssteg ihres Büstenhalters zwischen den zwei Körbchen durchtrennt hat. Er legt das Messer beiseite. Seine rechte Hand umklammert ihre Kehle, die linke macht sich an ihren Brüsten zu schaffen.
Anna-Maria schließt die Augen. Jetzt werde ich vergewaltigt, schießt es ihr in den Kopf. Aber sie ist klug und gefasst genug, sich nicht zu wehren.
Der Mann nestelt noch einen Augenblick an ihren Brüsten, dann lässt er von ihr.
„Damit Du es weißt: Das ist nur eine Warnung. Kommt das noch einmal vor, werden wir Dir eine Lektion erteilen, die Dich Dein Leben lang verfolg. Dann wird Dein hübsches Gesicht nur noch für die Geisterbahn taugen.“ Wenig später sind die zwei Maskierten aus dem Zimmer.
Anna-Maria hört, wie die Haustür zugeschlagen wird.